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Das Spinnrad in Märchen: Rumpelstilzchen

Aktualisiert: 4. Sept. 2021

In vielen Märchen, die wir als Kinder gehört haben, hat das Spinnrad immer eine sehr wichtige Rolle gespielt. Denken wir zum Beispiel an Dornröschen, Frau Holle oder Rumpelstilzchen. Im « echten«  Leben mussten wir dann allerdings feststellen, dass es das Spinnrad praktisch gar nicht gibt. Wieso ist das so, dass das Spinnrad in Märchen oft so eine große Rolle spielt, wenn sie in unserem alltäglichen Leben praktisch keine Relevanz haben? Dieser Frage möchte ich nachgehen und dafür das Märchen "Rumpelstilzchen" aus der Perspektive des Spinnrades analysieren.


© Greta Webhofer

Märchen sind ursprünglich mündlich weitergegebene Geschichten. Sie sollten zum einen unterhalten, waren aber auch dazu da, die Zuhörer:innen zu erziehen. Die Zuhörer:innen waren Kinder und Erwachsene, weshalb sich die Geschichten oft auf mehreren Ebenen interpretieren lassen. Durch das weitererzählen haben sich diese Märchen ständig verändert und transformiert je nach Erzähler:innen und Zuhörer:innen.


Zwischen 1812 und 1858 haben die Gebrüder Grimm ihre berühmte Sammlung von "Kinder- und Hausmärchen" aufgeschrieben. Dieses Ereignis ist sehr relevant, da es den Zeitpunkt markiert, von dem an die Märchen schriftlich festgehalten und fixiert wurden und somit in Raum und Zeit eingefroren wurden.


Das Spinnrad und die Industrialisierung

In Deutschland zwischen 1812 und 1858 war die Industrialisierung noch in ihren Anfängen und hat noch nicht so stark in das alltägliche Leben der Menschen eingegriffen. Die Industrialisierung des Spinnens hat mit der Erfindung der Spinnmaschine im Jahr 1765 von James Hargreaves begonnen. Bis das Spinnen allerdings vollständig in die Hände der Maschinen gerät, sollte es noch ein Jahrhundert dauern. Das Spinnrad war also durchaus noch ein alltägliches Werkzeug, zu der Zeit, als die Märchen niedergeschrieben wurden.


Weiblichkeit und das Spinnrad

Das Spinnrad ist ein Werkzeug, mit dem Rohwolle in einen Faden und somit in Stoff verarbeitet werden kann. Gerburg Treusch-Dieter schreibt in ihrem Buch "Wie den Frauen der Faden aus der Hand genommen wurde: die Spindel der Notwendigkeit." (1983), dass das Spinnen traditionellerweise von Frauen praktiziert wurde. Das Spinnen war in den Händen der Frauen, bis zur Erfindung der Spinnmaschine. Laut Gerburg Treusch-Dieter ist das Spinnrad, als weibliche Weisheit, von Frau zu Frau weitergegeben, ein Symbol für die weibliche Produktivkraft und Unabhängigkeit. Auch das häusliche Setting, in dem das Spinnen praktiziert wird spielt eine wichtige Rolle. Die weibliche Produktivkraft ist einerseits hinter den Türen versteckt, andererseits haben Frauen so einen eigenen Raum, einen "Safe Space" haben können. Das Spinnen wurde meist gemeinschaftlich in den sogenannten "Spinnstuben" praktiziert, eine Gelegenheit sich auszutauschen, sich zu Unterhalten und Geschichten, Märchen zu erzählen. Ein Grund für die hohe Präsenz von Spinnrädern in Märchen könnte also sein, dass für die Weitererzähler:innen das Spinnrad so wichtig war und das Spinnrad während des Erzählens vielleicht sogar im selben Raum war.


Das Märchen Rumpelstilzchen

In der Geschichte "Rumpelstilzchen" wie sie die Gebrüder Grimm aufgeschrieben haben, bietet ein armer Mann dem König seine Tochter an die, so behauptet er, Stroh zu Gold spinnen kann. Die Tochter wird in der Nacht mit Bergen von Stroh im Keller des Königs eingesperrt und soll bis zum Morgen Gold spinnen. Die Tochter aber kann diese Erwartungen nicht erfüllen. Ein kleines "Männchen" kommt ihr zu Hilfe, nimmt ihr das Spinnrad aus der Hand und bietet ihr an gegen ihr erstes Kind das Stroh zu Gold zu spinnen. Dies geschieht, die Tochter heiratet den König und gebärt, und das Männchen will das Kind haben, wenn sie es aber schafft seinen Namen zu erraten, dann kann sie es behalten. Durch die Hilfe eines Soldaten findet sie den Namen heraus und alle sind glücklich und zufrieden.


Rumpelstilzchen ist die Geschichte einer Frau, die nicht in der Lage ist ihre Arbeit als Spinnerin den Vorstellungen der Gesellschaft entsprechend auszuführen. Sie ist eine sehr passive Figur und all ihre Handlungen sind von männlichen Figuren beeinflusst und kontrolliert. Jack Zipper schreibt in seinem Buch "Spinning with Fate: Rumpelstiltskin and the Decline of Female Productivity" (1993), dass die Geschichte ein sozio-historisches Statement über die Ausbeutung von Frauen als Spinnerinnen und die Aneignung des Spinnens von Männern durch Maschinen ist. Der Wert einer Frau ergibt sich aus ihrer Fähigkeit zu spinnen und zu produzieren. Durch die Hilfe des kleinen Männchens ist sie in der Lage eine gute Spinnerin zu sein, sie steigt gesellschaftlich auf und wird Königin. Das Spinnen entscheidet ihr Schicksal und stellt einen Prozess der "Domestizierung", des Häuslich werdens, der Übergang von Kindheit zur Mutterschaft dar. Laut der Interpretation von Jack Zipper kann die magische Fähigkeit des kleinen Männchens zu Spinnens als Symbol für die Maschinen gelesen werden, die den Frauen die Produktivität weggenommen haben und dessen einziger Wert nunmehr die Fähigkeit ist zu gebären. Durch diese Verlagerung der Textilproduktion in die Fabrikshallen, gerieten Frauen noch mehr unter die Kontrolle der Männer und ihr "Safe Space", die Spinnstube wurde ihnen weggenommen, wo sie für die Gesellschaft wichtige Stoffe herstellen konnten und sich treffen konnten um Geschichten weiterzuerzählen.


Wir konnten also feststellen, dass die Geschichte von Märchen und das Spinnrad eng verknüpft sind. Der Moment in dem Märchen niedergeschrieben und fixiert wurden und der Moment als der Prozess des Spinnens aus der weiblichen Hand genommen wurde sind sehr nah beieinander. Die Märchen konservieren das präindustrielle Setting, in dem Spinnräder so präsent waren und markieren das Ende der mündlichen Weitergabe von Märchen, was ja wiederum etwas damit zu tun hat, dass sich die Frauen nicht mehr in den Spinnstuben getroffen haben. Vielleicht hat das ja etwas damit zu tun, dass das Spinnen auch so Präsent ist in unserer Sprache...?





Quellen:

Treusch-Dieter, Gerburg: Wie den Frauen der Faden aus der Hand genommen wurde: Die Spindel der Notwendigkeit, Berlin: Ästhetik und Kommunikation, 1983.


Van de Pool, Lotte: Der Bürger und die Hure: das sündige Gewerbe im Amsterdam der frühen Neuzeit, Frankfurt/Main, New York 2006, S, 110.


Zipper, Jack: Spinning with Fate: Rumpelstiltskin and the Decline of female Productivity, in: Western Folklore, Jan., 1993, Vol. 52, No.1 Perspectives on the Innocent Persecuted Heroine in Fairy Tales (Jan., 1993), S. 43-60.


http://maerchenheute.blogspot.com/2008/12/das-spinnrad.html (23.06.2021)


https://thewillowweb.com/2014/06/16/the-symbolism-of-spinning-wheels/ (23.06.2021)


Foto von Greta Webhofer



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